Schock-DokuDeutschlands spektakulärster Kriminalfall – „Gladbeck: Das Geiseldrama“ bei Netflix

Geiseldrama von Gladbeck
Geiseldrama von Gladbeck - Geiselnehmer Hans Jürgen Rösner (Vorne li.) und Dieter Degowski (2.v.r.) mit der später erschossenen Geisel Silke Bischoff.

IMAGO / Sven Simon

Redaktion KuTRedaktion KuT | 26.06.2022, 20:31 Uhr

Wir alle lieben True Crime – doch diese Netflix-Doku geht so richtig unter die Haut. Mit „Gladbeck: Das Geiseldrama“ wird der wohl spektakulärste Kriminalfall der deutschen Geschichte neu aufgerollt und erzählt von einer Geiselnahme, die sagenhafte 54 Stunden andauerte.

August 1988 – zwei bewaffnete Männer überfallen eine Bank in Gladbeck und lösen eine Geiselnahme aus, die mit drei Toten endet. Mit diesem unfassbaren Kriminalfall beschäftigt sich die neue Netflix-Doku „Gladbeck: Das Geiseldrama“ und schafft es, mit einer ungewöhnlichen Vorgehensweise den Zuschauern die Schrecken dieser berühmt-berüchtigten 54 Stunden näherzubringen.

Der Film zeigt wie schnell die Lage in diesem Fall eskaliert ist und inwiefern Medien und Polizei dazu beigetragen haben. Während dessen sich die Gangster im Menschengewühl präsentieren und Journalisten freigiebig für Interviews zur Verfügung stehen ist stundenlang von der Polizei nichts zu sehen!

Geiselnahme von Gladbeck
Gladbecker Geiseldrama: Festgesetzter Bus

IMAGO / teutopress

Einmal quer durchs Land

„Wir werden einige Forderungen stellen und werden die nicht erfüllt, dann knallt es“ – mit dieser Ansage tritt am 17. August 1988 Bankräuber Hans-Jürgen Rösner wieder mal vor die Kamera der Journalisten. Im Hintergrund ist ein Bus zu sehen, in dem über 30 Geiseln sich fragen, ob sie die nächsten Stunden überleben werden. Schon ein Tag ist vergangen, seitdem Rösner zusammen mit seinem Komplizen Dieter Degowski eine Bank in Gladbeck überfallen hat.

Mittlerweile befinden sich die beiden schon in Bremen – und können erst einige Stunden später auf der A3 bei Bad Honnef gestellt werden.

Geiselnahme von Gladbeck
Hans-Jürgen Rösner in der Innenstadt Köln 18. August 1988:

IMAGO / United Archives

Besonders schockierend ist die Art und Weise, wie die Medien mit den beiden Verbrechern umgehen – und umgekehrt. Wie man in der Doku sieht, betrachten die Journalisten das Geiseldrama nämlich eher als Geschäftsausflug und belagern die beiden Männer, um auch ja das beste Foto oder das exklusivste Interview zu erhaschen. Teilweise setzen sie sich sogar zu den Verbrechern ins Fluchtauto und bieten sich als Vermittler an – zahlreiche Jouenalisten fahren den Gangstern im Pulk hinterher.

Doch auch die Polizei kommt nicht besser weg – 54 Stunden lang wirken die Behörden völlig hilflos und können nicht verhindern, dass am Ende drei unschuldige Menschen sterben. Der Fall ist sattsam bekannt und ein unvergessener Skandal von Behördenversagen auf ganzer Linie.

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Eine etwas andere True-Crime-Doku

Volker Heise,  Regisseur der Netflix-Doku und Produzent Yan Schoenefeld haben sich einen besonderen Erzählstil für den Kriminalfall ausgesucht. Auf sämtliche Elemente von gängigen True-Crime-Dokus wie zum Beispiel nachgestellte Szenen oder Zeitzeugenaussagen haben sie verzichtet. Einzig und allein mit der Aneinanderreihung von Archivmaterial und teilweise bislang nicht veröffentlichtem Rohmaterial erzählen sie vom unfassbaren Schrecken dieser Geiselnahme.

„Als wir uns überlegt haben, wie wir den Film machen, habe ich mir Dokumentationen über die Geiselnahme angeschaut. Und da hieß es oft: Sie sehen jetzt schlimme Bilder und es ist ganz schlimm, dass diese Bilder gemacht worden sind. So, und nun gucken Sie sich das alles doch mal an“, erklärte Heise in einem Interview mit der „Netflixwoche“.

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Und damit wollte er sich nicht zufriedengeben. Heise weiter: „Das ist so eine Doppelmoral, die funktioniert nicht. Deshalb haben wir uns gesagt: Wir müssen den Stier bei den Hörnern packen. Wir müssen sagen: Ja, das Geiseldrama hat man damals wie eine Show erzählt. Und wir nehmen euch heute noch mal mit auf diesen Trip. Aber am Ende sind Menschen tot. Und das sind reale Menschen. Das ist keine Show. So haben wir den Film auch aufgebaut. Am Ende hört die Musik und die Action auf und auf der Autobahn liegen einfach nur noch zwei Menschen und die sind tot.“

„Gladbeck betrifft uns alle“

Doch warum gerade jetzt ein Geiseldrama hervorkramen, dass sich vor mehr als 30 Jahren ereignet hat? Auch darauf hat der Regisseur eine Antwort.

Er erklärt: „Das Geiseldrama hat sich während einer Übergangszeit ereignet. Zu einer Zeit, als Nachrichten zu Entertainment wurden. Mit der Geiselnahme von Gladbeck geht ein Verbrechen zum ersten Mal in Deutschland live on air. Heute ist das ja total normal. Man denke nur an die Stürmung des Kapitols in Washington D. C.“

Der Fall Gladbeck sei wie ein Trip gewesen, meint er – doch damit sei irgendwann Schluss. „Es gibt am Ende diese Fotos von der Autobahn, auf der die Polizei die Geiselnehmer gestellt hat“, so Heise, „Die einzigen Fotos im Film, die von oben gemacht sind. Damit wollten wir in die Distanz gehen und sagen: Das ist es jetzt. Das ist das Ergebnis. Am Ende von diesem Sog, von diesem Trip wartet die Wirklichkeit.“

„Gladbeck: Das Geiseldrama“ jetzt auf Netflix

Es lohnt sich auf jeden Fall, die Serie anzusehen – schließlich ist sie ein Stück deutsche Geschichte, die uns den Spiegel vorhält und zeigt, dass das, was in den Nachrichten passiert, keine TV-Show, sondern bitterer Ernst ist. Wer sich also mit ungeschönten Einblicken in deutsches Medien- und Polizeiversagen mit echten Archivaufnahmen konfrontieren will, sollte sich die Netflix-True-Crime-Doku nicht entgehen lassen.

Die Geiselnahme von Gladbeck
Die Polizei gibt sich kampflos

© 2022 Netflix, Inc

Notwendige Anmerkungen

In dem entführten Linienbus erschoss Degowski den 14-jährigen Italiener Emanuele De Giorgi. Auf der Fahrt zum Tatort kam der 31-jährige Polizist Ingo Hagen in Bremen bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

Beim Zugriff auf der Autobahn wurde die 18-jährige Geisel Silke Bischoff mit einem Projektil aus Rösners Waffe tödlich getroffen. Am Busbahnhof Bremen-Huckelriede, wo die Täter am Abend des 17. August 1988 einen Bus in ihre Gewalt gebracht hatten, wurde Ende März 2019 vom Bremer Senat eine Stele mit dem Namen der drei Opfer eingeweiht.

Beide Gangster wurden zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt, bei Rösner wurde eine anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet. Dieter Degowski verließ das Gefängnis nach fast 30 Jahren als 61-Jähriger mit neuer Identität im Februar 2018.

Als frühester Entlassungszeitpunkt aus der Haft wäre für Geiselmörder Hans-Jürgen Rösner 2016 in Betracht gekommen. Seit November 2017 ist er in eine Therapie zur Resozialisierung. Bislang ist keine Entlassung erfolgt.

Rösner war 31 als er die Geiselnahme verübte. Er ist heute 65.

Dokumentationen und Fernsehfilme

„Ein großes Ding“ – Dokudrama (ARTE/ZDF 1999)
„Gladbeck – Dokument einer Geiselnahme“ (WDR 2006)
„Das Geiseldrama von Gladbeck“ – (ZDF-History 2013)
„Das Geiseldrama von Gladbeck“ – Danach war alles anders. (ARD 2018)
„Gladbeck“ – Zweiteiliger Spielfilm (ARD 2018)