TV-KultDer „Tatort“ ist nicht totzukriegen. Oder doch?

Der „Tatort" ist nicht totzukriegen
Der „Tatort" ist nicht totzukriegen

Schimanski & Tanner. Foto: imago images / United Archives

Paul VerhobenPaul Verhoben | 06.10.2020, 22:13 Uhr

Am „Tatort" scheiden sich die Geister. Für die einen ist er Kult, für die anderen aber eben auch die Pest. Oder allenfalls ein zu belächelndes Relikt aus Zeiten des Röhrenbildschirms. Ist das so?

Nach 50 Jahren Fernsehgeschichte, in Zeiten von Netflix und Video on demand, da wäre eigentlich Zeit für einen Abgesang. Beim „Tatort“ fällt das aber schwer. Denn wenn das letzte TV-Lagerfeuer am 29. November 50. Geburtstag feiert, geraten Experten ins Schwärmen.

Am „Tatort“ scheiden sich die Geister. Für die einen ist er Kult, für die anderen die Pest. Oder allenfalls ein zu belächelndes Relikt aus Zeiten des Röhrenbildschirms. Nichtsdestotrotz können sich die Sonntagabend-Erstausstrahlungen über ein Millionenpublikum freuen. Ausgerechnet die Krimireihe über Mord und Totschlag ist nicht totzukriegen. Experten sehen den Grund gerade darin, dass es eben nicht DEN „Tatort“ gibt.

Der „Tatort" ist nicht totzukriegen. Oder doch?

Ulrich Tukur in „Im Schmerzen geboren“. Foto: HR/Philip Sichler

Von Kino bis Kammerspiel

„Manche ‚Tatort‘-Standorte haben hervorragende Drehbuchautoren, manche erlauben auch Experimente“, sagt die Kulturanthropologin Regina Bendix von der Universität Göttingen. Der Zuschauer habe somit eine Auswahl. „Wer schon lange ‚Tatort‘ schaut, kann diese Unterschiedlichkeit auskosten. ‚Tatort‘ ist nicht gleich ‚Tatort‘.“

„Wenn man zehn Millionen Zuschauer haben will, muss man eine Mischkalkulation machen“, erklärt Germanist Stefan Scherer vom Karlsruher Institut für Technologie. Für jüngere, Netflix-erprobte Generationen müsse etwas dabei sein, das sich am Kino orientiert. Die Wiesbadener Folgen um Ulrich Tukur oder das Weimarer Team um Christian Ulmen und Nora Tschirner seien Beispiele. Großeltern sei das womöglich zu schnell, die bräuchten eher Kammerspielartiges.

Gerade die Abwechslung mache es aus, sagt Scherer. „Man muss schon Experimente wagen, aber nicht zu viele.“ Folgen von Regisseur Dominik Graf etwa, der auch einen Teil der Jubiläumsdoppelfolge verantwortet, überforderten viele. „Aber ich glaube, das Format ist unverwüstlich.“

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Experimentelle Kriminalfälle und klassische Formate

Zudem baue sich der „Tatort“ kontinuierlich um, betont Bendix. „Dass er sein 50. Jubiläum feiern kann, leitet sich aus der recht genialen föderalen Anlage ab, der es nach 1989 auch gelang, in gewisser Weise integrativ zu wirken.“ Früher noch stärker habe der „Tatort“ zur Landeskunde beigetragen, sagt auch Scherer. „In Norddeutschland hat man die Lebensverhältnisse in Bayern kennengelernt und umgekehrt.“

Durch den regen Wandel könnten auch neue Herangehensweisen gut getestet werden, sagt Christian Hißnauer vom Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität (HU) Berlin. Wenn etwas dann beim Publikum nicht ankomme, wie etwa der Saarbrücker Ermittler Jens Stellbrink (Devid Striesow), könne es schnell abgestellt werden. „Gleichzeitig stabilisieren die Altbekannten das Format.“

Insbesondere der Hessische und der Mitteldeutsche Rundfunk trauten sich, experimentelle Kriminalfilme umzusetzen, meint Sabine Pofalla aus der Chefredaktion der Website „tatort-fans.de“. „Der WDR, NDR und BR hingegen bedienen im Wesentlichen die Sehgewohnheiten der – vorwiegend älteren – Stammzuschauer, die klassische Erzählformate bevorzugen. Das sind jene ‚Tatort‘-Liebhaber, die sich regelmäßig Kommissar Haferkamp, Bienzle oder Horst Schimanski aus den Anfängen der Serie zurückwünschen.“ Die Mischung sei ausbalanciert und genau richtig, findet Pofalla. „Spannend, ernst, komisch, überraschend, erschreckend, seriös und albern: Der ‚Tatort‘ erzeugt Emotionen.“

„Eines der letzten medialen Lagerfeuer“

Auch Hendrik Buhl vom Institut für Information und Medien, Sprache und Kultur an der Uni Regensburg, findet, die ARD habe alles richtig gemacht, dass sie die Reihe im Laufe der Zeit breiter aufstellte und beispielsweise mit den Til-Schweiger-„Tatorten“ mehr Action bot. „Das ist der Versuch, andere Milieus zu erreichen.“ Der Wandel sorge für Erneuerung. Zugleich funktioniere der „Tatort“ nach wie vor dank der einfachen Formel: Mord-Detektion-Aufklärung. Den „Tatort“ bezeichnet Buhl als „letztes fiktionales Fernsehereignis“, als „eines der letzten medialen Lagerfeuer, vor denen sich die Nation versammelt“.

Das liegt aus Bendix‘ Sicht auch am Sendeplatz am Sonntag um 20.15 Uhr: „Der markiert das Ende des Wochenendes.“ Da sei oft Zeit zum generationsübergreifenden, gemeinsamen Gucken. „’Tatort‘ wirkt – für manche – vergemeinschaftend. Menschen tauschen sich mit Familie und Freunden oder auch am Arbeitsplatz darüber aus“, sagt sie. Dass dabei auch gelästert werde, tue wenig zur Sache: „Es bilden sich Vorlieben heraus für ein Ermittlerduo, Antipathien für ein anderes, Neugierde, wie ein neuer ‚Tatort‘-Ort sich entwickeln wird, und Genuss, gemeinsam mit einem altvertrauten ‚Tatort‘-Team zu altern.“

Tatort als Mini-Serie?

Anders sieht es etwa Hißnauer: Der Sendeplatz passe für viele nicht mehr in den Tagesablauf. Viele guckten heute zeitversetzt. Das habe auch Folgen für den „Tatort“ als Gesprächsthema: „Man kann sich nicht mehr sicher sein am Montagmorgen, dass das Gegenüber ihn auch geguckt hat.“ Das sei früher anders gewesen. „Da wusste man, dass der Kollege ‚Wetten, dass…?‘ oder ‚Tatort‘ geguckt hatte.“

Buhl betont ebenfalls, dass die „Erzählform der Stunde“ die horizontal erzählte Serie sei. „Vielleicht sollte es den ‚Tatort‘ daher auch in Form von Miniserien geben, eventuell sogar mit eigenen Teams dafür, die dann über mehrere Folgen einen Fall lösen.“ Das entspreche mehr der Netflix-Generation und den neuen Sehgewohnheiten. Zudem liege ein wichtiger Faktor auf der Mediathek und ähnlichen Nutzungsformen: „Wenn man junge Zuschauer halten will, dann online.“

© dpa-infocom, dpa:201005-99-827580/2 (Von Marco Krefting, dpa)