InterviewBoy George ganz privat: „Mein Postbote erkennt mich nicht“

Boy George in seiner Jugend wegen Homosexualität geschlagen?
Boy George in seiner Jugend wegen Homosexualität geschlagen?

imago images / Starface

Paul VerhobenPaul Verhoben | 09.12.2018, 21:39 Uhr

Boy George (57) ist eine lebende Legende und mit seinem Culture Club gerade auf Deutschland-Tour (in Köln und Berlin). Natürlich stellt der Paradiesvogel dabei auch Lieder des neuen Culture-Club-Albums „Life“ vor – ihrem ersten Studio-Werk seit 19 Jahren. Vorab traf klatsch-tratsch.de-Autorin Katja Schwemmers den Briten, der eigentlich George O’Dowd heißt, zum Interview im Berliner Soho-House.

Mr. O’Dowd, es ist Montagmorgen 10 Uhr, und Sie sitzen hier wie aus dem Ei gepellt. Ist das Ihre Zeit?
Ich habe keine bestimmte Zeit. Mir ist es nur zu früh, wenn mein Gegenüber spürbar kein Morgenmensch ist. Traditionell gehört meine Familie eher nicht zu den Morgenmenschen, aber ich bevorzuge es, früh aufzustehen und früh zu Bett zu gehen, auch wenn mir als Nachtarbeiter mein Lifestyle normalerweise etwas anderes diktiert. Wenn ich nicht arbeite, liege ich um 22 Uhr in der Falle und bin um 6 Uhr wieder hoch. Man schafft einfach mehr.

Erfolgreiche Menschen sind so.
Ein erfolgreicher Mensch – bin ich das? (lacht) Momentan lebe ich das Tourleben mit Culture Club. Es ist nur selten richtig spät geworden. Als ich noch als DJ unterwegs war, bin ich nicht vor 4 Uhr nach Hause gekommen. Das war die Regel – 20 Jahre lang. Ich vermisse das überhaupt nicht.

Ist das der Grund, warum Sie so gesund aussehen?
Ich habe seit zehn Jahren keinen Alkohol mehr angerührt. Der lässt die Haut alt aussehen. Zucker und Alkohol sind das Schädlichste überhaupt. Ich gönne mir nur wenig Zucker. Wenn ich ihn zu mir nehme, merke ich es sofort – im Gegensatz zu früher, wo ich diesbezüglich abgestumpft war.

Und die Gene?
Meine Mutter wird 80 im Januar, sie sieht fantastisch aus! Es hat wohl auch mit dem Geist zu tun, und wie du gegenüber der Welt fühlst. Aber ich sah nicht immer so gut aus wie heute. (lacht) Es gab Phasen, in denen ich mich im Spiegel betrachtete und schrie. Irgendwann habe ich gar nicht mehr in den Spiegel geschaut und meine Eitelkeit ganz beiseite geschoben.

Ihre Twitter-Follower geraten regelmäßig ins Schwärmen, wenn Sie mal ein Bild ohne Make-up posten.
Das ist fast ein wenig befremdlich für mich. In den letzten 30 Jahren wurde ich unzählige Male mit Fotos von mir an irgendeinem Flughafen konfrontiert – und die Kommentare waren grausam. Der Tenor: „Boy George ist nicht wiederzuerkennen ohne sein Make-up.“ Wie oft kann man das über jemanden schreiben? Ich trage meistens überhaupt kein Make-up! Die meiste Zeit bin ich als George O’Dowd unterwegs. Wenn Leute mich so casual treffen, sind sie vielleicht sogar enttäuscht, weil ich das Image nicht bediene, das sie erwarten.

Erkennt der Paketbote Sie?
Nein, der bekommt mich kaum zu Gesicht. Die meisten Leute, die Dinge bei mir anliefern, wissen nicht, wer ich bin oder halten mich für jemand anderen. Oder sie wissen, wer ich bin, und sagen: „Könnte ich bitte Ihren Ausweis sehen?“ (lacht)

Und ich dachte, Sie erkennt jeder!
Neulich schrieb ein junger Typ auf Twitter, dass alle schockiert seien, dass er Boy George nicht kennen würde. Und ich schrieb zurück: „Ich habe von dir ja auch noch nicht gehört.“ Ich bin kein Mensch, der denkt, jeder müsste wissen, wer ich bin. Aber ich arbeite hart dafür, damit sie es wissen. Dennoch überrascht es mich nicht, wenn jemand im Alter von 18 nicht weiß, wer ich bin. Warum sollte er? Ich kenne ja auch niemanden mehr, der im Radio läuft. Ich höre überhaupt kein Radio.

Fühlen Sie sich wohl, als George O’Dowd erkannt zu werden?
Ja, der Unterschied zwischen Jetzt und vor 20 Jahren ist, dass es mir sehr viel egaler ist, was andere Leute denken. Früher waren die Reaktionen der Leute für mich wie eine Ansage. Aber heute mache ich mir darum keine Sorgen mehr. So soll es auch sein, wenn man älter wird. Du lässt los, ich fühle mich wohl in meiner Haut. Und das Aufrüschen ist etwas, was ich für mich selbst mache – nicht für andere. Wenn Leute meine Klamotten als Bühnenkostüm beschreiben, denke ich immer: Das ist Blödsinn, ich trage das, weil es mir Spaß macht, weil ich ungewöhnliche Dinge liebe. Hüte lieben mich, die hüpfen geradezu vom Regal auf meinen Kopf.

Wie viele haben Sie?
Ich würde schätzen 150.

Haben Sie einen Extra-Ankleideraum für Ihre Hüte?
Nein, sie sind überall im Haus verstreut. Du öffnest den Küchenschrank, und da liegt ein Hut. (lacht) Ich habe einen Raum für Klamotten, aber die Hüte führen ihr eigenständiges Leben. Wenn man mich für eine Wohltätigkeits-Auktion um etwas bittet, sind es auch immer Hüte. Sie sind zu meinem Markenzeichen geworden.

Nie oben ohne?
Höchst ungern! Manche Leute entledigen sich gerne ihrer Kleider, ich werfe mich gerne in Schale. Ich würde mich als Anti-Naturalist bezeichnen. Es gibt Situationen, in denen ich mich nicht wohl fühle. Ich bin kein Mensch, den man am Strand sieht. Für mich ist das kalte Wetter perfekt. Hitze ist der Feind der Mode!

Dann muss der zurückliegende Sommer der Horror für Sie gewesen sein!
Und wie! Ich war auf Tour an Orten wie Florida, wo es gleißend heiß ist. Das war echt hart! Jedes Detail davon. Ich trug immer Hut und Jacke. Über die Jahre habe ich sehr hart an einem Look für das Tagesgeschäft gearbeitet, aber das war nie von Erfolg gekrönt. Also bin ich entweder im vollen Glow oder sehe aus wie ein Landstreicher. (lacht)

Was gehört zu Ihrer täglichen Routine?
Ich mache jeden Tag etwas Stretching, Yoga, Walking, und ich versuche zu meditieren. Letzteres mache ich auch immer, wenn ich gestresst bin oder mies drauf. Ich sitze und spreche zu mir selbst. Ich habe die Intention, nicht wütend oder unhöflich zu werden. Ich bin damit nicht immer erfolgreich, weil ich nun mal Mensch bin. Aber es klappt besser als früher. Ich kann es besser abfangen, bevor sich die Situation zuspitzt. Aber es gibt immer jemanden, der dich verärgert, und meistens ist es der Rest der Band. Wir sind ziemlich gut darin, die richtigen Knöpfe beim anderen zu drücken, damit der an die Decke geht.

Also ist die Reunion nur von kurzer Dauer?
Das würde ich nicht sagen. Denn dieses Mal lachen wir uns darüber auch mal kaputt. Neulich hatten wir eine Meinungsverschiedenheit, ich wollte meinen Kopf durchsetzen, da fiel ich wieder in den klassischen Achtziger-Boy-George zurück und sagte: „Ich verlasse die Band!“ Aber ich musste im Nachhinein selbst drüber lachen.

Die anderen Culture-Club-Mitglieder haben im Jahr 2006 eine Reunion mit neuem Sänger ausprobiert. Da musste ich lachen.
Ich hab damals nicht gelacht. Ich war schwer enttäuscht. Ich war nicht nur sauer – ich war alles Mögliche. Ich dachte nur: „So wenig bin ich euch wert?“

Das ist ein bisschen wie bei Spandau Ballet, die nun ohne Tony Hadley als Frontmann auftreten.
Lustig, dass Sie das erwähnen. Ich arbeite mit einem jungen Sänger namens Vangelis Polydorou zusammen, denn ich habe ja auch ein Label. Ich habe ihn letztes Jahr zur Audition geschickt, um für Tony Hadley bei Spandau Ballet einzuspringen. Er hat es gut gemacht. Ich dachte, es wäre eine gute Erfahrung für ihn, wenn er ein Jahr mit Spandau Ballet unterwegs ist. Sie haben sich dann für jemand anderen entschieden. Wir haben aber den Spandau-Ballet-Hit „Gold“ aufgenommen, denn er singt ihn wundervoll.

Wie läuft es denn zwischen Ihnen und Culture-Club-Schlagzeuger Jon Moss, mit dem Sie in den Achtzigern verbandelt waren? Gibt es da immer noch Flirts?
Nein, gar nicht. Das ist zwar sehr enttäuschend für alle, aber es wäre enttäuschend für mich, wenn da noch was wäre. Denn er hat ganz sicher keine romantischen Gefühle mehr, wenn er an mich denkt. Und ich denke ganz bestimmt auch nicht auf die Art an ihn.

Ist ja auch lange her.
Ja, es ist, als hätte ich mal einen Dinosaurier gedatet – so weit weg ist es. (lacht) Nehmen Sie das gerne als Überschrift. (lacht)

Sind Sie derzeit in einer Beziehung?
Nein, aber ich bin nicht einsam. Es heißt, die Fähigkeit zu lieben, kommt von der Fähigkeit, allein sein zu können. Das ist wichtig. Wenn du es allein nicht aushältst, ist es fast schon unmöglich, mit einer anderen Person zusammen zu sein.

Auf der neuen Culture-Club-Platte geht es viel um Liebe, was immer schon Ihr Hauptthema war. Provoziert haben Sie nur mit Ihrer Erscheinung, nie mit der Musik.
Das stimmt. Aber wenn ich heute über Liebe schreibe, hat das nicht mehr denselben Ton wie in den frühen Songs der Band, wie bei „Do You Really Want To Hurt Me“ oder „Victims“. Für die Opferrolle bin ich nicht mehr zu haben. Eine Menge Leute sagen dir, dass sie dich lieben, aber Aktionen sind besser als Worte. Ich schreibe heute eher aus der Position des Beobachters.

Inwiefern?
Ich habe mir oft in Liedern Fragen gestellt, aber erwarte heute keine Antworten mehr. Der Eröffnungssong der Platte heißt „God & Love“ – und das ist ein Statement für das ganze Album. Liebe ist eher wie Gott. Es ist eine unbekannte Größe und Entität, die keiner von uns vollständig verstehen kann. Du musst schon einen starken Glauben an die Liebe haben, genauso wie bestimmte Menschen auch an Gott glauben müssen.

Was tun Sie für Ihre Spiritualität?
Ich denke, man muss bei sich selbst anfangen. Ich praktiziere ja Nichiren-Buddhismus, was die japanische Form des Buddhismus ist. Meine Spiritualität ist ein Arbeitsprozess, wie das meiste an mir. Ich entdecke ständig neue Dinge, wer ich bin oder wie ich kommuniziere. Und ich reflektiere mich dabei mehr.

Sie meditieren.
Ja. Wenn eine Situation passiert, in der ich mich unangemessen verhalten habe, würde ich darüber nachdenken, was ich nächstes Mal anders machen kann, damit es nicht noch mal passiert. Ein Werkzeug dafür ist, einfach für ein, zwei Minuten alleine dazusitzen. Ich sage mir mehrmals am Tag: „Okay, ich will, dass es ein toller Tag wird.“ Und ich sage das auch immer anderen Leuten. Es ist unglaublich, wie mächtig das ist. Denn da ist so viel Durcheinander und so viel Meinung über uns selbst und andere Leute in unseren Köpfen, dass es manchmal gut ist, einfach auf Stille umzuschalten. Einer meiner Lieblings-Philosophen ist der spirituelle Lehrer Eckhart Tolle. Deutsche kennen ihn meist nicht, obwohl er Deutscher ist. „The Power Of Now“ ist ein tolles Buch. Ich sage ja immer: Guckt weniger Fernsehen und mehr Ted-Talks.

Tun Sie das?
Ja, ich schaue mir beim Ted Talk viele spirituellen Lehrer an. Ich war aber eh immer ein sehr optimistischer Mensch. Vermutlich ist das der Grund, warum ich all die schwierigen Dinge in meinem Leben überlebt habe. Da ist diese verrückte Seite an mir, die mich absolut optimistisch denken lässt. Alles wird gut.

Woher haben Sie die?
Als Heranwachsender habe ich meine Mutter erlebt, wie sie schwierige Situationen meisterte. Meine Mutter hat sechs Kinder mit wenig Geld groß gezogen. Mein Vater war ein Spieler. Wenn er mal Geld hatte, dann setzte er es auf ein Pferd, verlor fast immer, und meine Mutter hatte nichts zu essen für uns. Dann ging sie raus, sprach mit Nachbarn, mit dem Bäcker und dem Metzger – damals waren die Leute noch freundlicher – und bekam Hilfe. So aufzuwachsen hat mir definitiv ein dickes Fell gegeben. Ich bin sehr wie meine Mutter, aber auch etwas wie mein Vater. Man übernimmt nun mal das Meiste von den Eltern: die guten und schlechten Eigenschaften

Haben Sie eine Lebensphilosophie?
Es gibt den Spruch „Du lehrst am besten, was du am meisten lernen musst.“ Ich versuche wirklich, danach zu leben. Ich weiß, wie du dich benimmst und sprichst zu Leuten, speziell auf der Bühne, kann große Auswirkungen haben. Als ich jünger war, hatte ich keinen Filter. Heutzutage bin ich sensibel und mir viel bewusster, wenn es ungemütlich für mich wird.

Sie sollen sich für Sternzeichen interessieren!
Stimmt. Ich selbst bin Zwilling mit Krebs im Mond. Und Stier und Steinbock mischen auch noch mit. All das bestimmt meine Persönlichkeit. Waagen scheinen sehr wie ich zu sein. Viele meiner Lieben waren Waagen. Die passen einfach gut zum Zwilling.

Wie frustrierend ist es, am gleichen Tag wie Donald Trump Geburtstag zu haben?
Es ist wie ein Handschlag des Schreckens! (lacht) Che Guevara, Alan Carr und Paul O’Grady sind auch am 14. Juni geboren. Da muss es eine Art schwule Finsternis in besagter Nacht gegeben haben, und Donald ist da irgendwie reingerutscht. (lacht) Auf der anderen Seite ist er zumindest ein interessanter Typ. Das Gefühl lässt mich nicht los, dass wir ihn in einen mimischen Bösewicht verwandelt haben. Denn die Frage ist doch: Hat Trump uns kreiert oder wir ihn?

Wie meinen Sie das?
Ich war immer der Außenseiter. Wenn du wie ich so offensichtlich schwul bist, bist du überall mit Vorbehalten konfrontiert. Ich war mir daher stets bewusst über die Projektionen anderer Leute auf meine Person und die Stimmungen in der Gesellschaft. Ich wurde zu einer Art wanderndem Spiegel. Und so könnte es auch mit Trump sein.

Sie nehmen ihn in Schutz?
Nicht wirklich. Aber die Revolution beginnt bei uns selbst. Wir brauchen mehr Mitgefühl für uns selbst und unsere Mitmenschen. Denn die Leute sind heute sehr viel wütender und unverschämter als ich es jemals erlebt habe. Als Culture Club jüngst in Amerika auf Tour waren, war ich mir eine Sache sehr bewusst: Ich sollte keine Kommentare über Trump ablassen und damit der Unruhe, die eh schon so groß ist, noch etwas hinzufügen. Ich fühlte instinktiv, dass das nicht mein Job ist. Mein Job ist es, über die Häufigkeit der Liebe zu reden. Das ist wichtiger als Trump.

Mit dem bunt besetzten Culture Club geben Sie auch so ein multikulturelles Statement ab.
Heute wie damals! Und diese Botschaft war nie wichtiger. Vor 30 Jahren passierte das eher unbewusst. Ich war damals 17 und eher ein Mensch, der nur um sich selbst kreiste. In den späten Siebzigern gab es die Streiks in Großbritannien, es war eine graue Zeit. Aber ich erinnere mich nur an den heißen Sommer und die Musik, die ich hörte. Ich war der Meinung, dass ich das unanfechtbare Recht hätte, zu sein, wer auch immer ich sein wollte. So fühle ich heute noch, allerdings bin ich mir anders als früher auch der Reaktionen darauf bewusst.

Wann fühlen Sie sich alt?
Ich fühle mich nicht alt. Auf Instagram schrieb neulich einer: „Du siehst alt aus ohne deinen Hut“. Und ich schrieb zurück: „Hoffentlich wirst du nicht alt.“ (lacht laut) Ich denke nicht in Alterskategorien wie andere Leute. Zeit ist ein Zwang, den wir Menschen uns selbst auferlegt haben. Ich kann da nur David Bowie zustimmen, der sagte: „Wir alle kommen und gehen zur gleichen Zeit.“ Das ist auch meine Philosophie. Ich arbeite allerdings in einer Industrie, die besessen ist vom Jungsein und der ewigen Suche nach dem Neuen.

Wie gehen Sie damit um?
Du musst etwas trotzig sein als älterer Künstler. Du musst all die Klischees und Stereotypen in der Musikindustrie verachten. Ich glaube, ich habe da einen guten Job gemacht. Ich bin stolz auf meinen Widerstand. In England lieben sie es ja zu sagen, dass du erledigt bist – ein Has-Been. Wenn du wieder auftauchst, können sie es nicht ausstehen. (lacht) Aber das ist nicht meine Motivation. Meine Motivation sind immer Ideen und Kreativität.

Haben Sie eine Bucket-Liste?
Ich will ein sehr erfolgreicher Maler werden. Ich male schon sehr lange, und nun bin ich soweit, dass ich es loslassen kann auf die Welt. Ich rede gerade mit einigen Leuten über eine Ausstellung. Das ist aufregend. Denn ich habe immer wieder solche Sachen gehört wie: „Du bist kein DJ. Du bist kein Fotograf. Du bist kein Modedesigner.“ Meine Antwort darauf war immer: „Du wirst sehen, dass ich es bin.“ Also will ich dieser langen Liste noch etwas hinzufügen.